Der kaukasische Kreidekreis von Brecht


Entstehungsgeschichte:

Der Kreidekreisstoff kam ursprünglich aus dem chinesischen Stück Kreidekreis, das von dem chinesischen Dramatiker Li Xindao im 13. Jahrhunderts geschrieben wurde. In einem Kreis, den der weise Richter mit der Kreide hat zeichnen lassen, soll das umstrittene Kind stehen. Zwei streitige Frauen sollen es nach Kräften aus dem Kreis herausreißen, um ihre Mutterschaft zu beweisen. Die wahre Mutter fürchtet jedoch, daß sie dadurch dem Kind Schaden zufügt, und kann das bei besten Willen nicht wagen. Die falsche Mutter aber, von der Möglichkeit angezogen, dadurch das Recht des Erben zu erlangen, scheut sich nicht davor. Dadurch aber erkennt der Richter die wahre Mutter und bestraft entsprechend die falsche Mutter.

Nachweislich taugt die Geschichte der weisen Entscheidung für die wahre Mutter auch in der Bibel: der Schwert des Königs Salomon; in der buddhistischen Lebensgeschichte und im Koran. Gemeinsam an diesen Geschichten ist der Gedanke der Erkennung der wahren Mutter im Fall der grausamen Teilung des streitigen Kindes.

Bertolt Brecht befaßte sich schon in seinen früheren Stücken mit dem Kreidekreisstoff. 1926 baute er dieses Motiv in eine kurze Szene im Zwischenspiel von Mann ist Mann in  epische Form ein. 1938 und 1939 erweiterte er dieses Thema zu einer Skizze und einem ausgeführten Dialog im "Odenseer Kreidekreis". Der Name der Magd, die für ein Kind sorgt, kommt unmittelbar vom chinesischen Kreidekreis. Ein Mann rettet im Aufstand den Gouverneur und wird später als Richter ernannt und richtet wie Eulenspiegel.1940 entwickelte er dies Thema weiter im Augsburger Kreidekreis. Zwar spielt dieses Stück wie das Stück Mutter Courage und ihre Kinder im Dreißigjähriger Krieg, also nicht im Aufstand wie Augsburger Kreidekreis und Der kaukasische Kreidekreis, doch ist die Grusche-Handlung und die Probe zugunsten des Kindes bereits da.

Brecht begann 1944 in seinem USA-Exil, an seinem Kreidekreisstück zu arbeiten. Er schloß am vierten (fünften) Februar 1944 mit dem Produzenten Jules Leventhal einen Vertrag für eine Aufführung des Stückes Der kaukasische Kreidekreis am Broadway ab. Bei der Arbeit an der ersten Fassung diskutierte er intensiv mit seinen Freunden und Bekannten wie Ruth Berlau und Lion Feuchtwanger. Am 5. Juni 19944 was die erste Fassung fertig.  Das Ergebnis war sozusagen eine Verbindung der beiden früheren Arbeiten: Die Azdak-Handlung ergab sich aus dem Odenseer Kreidekreis und die Grusche-Handlung entwickelte sich nach dem Augsburger Kreidekreis. Brecht fügte aber auch einen wesentlichen Einfall hinzu: Der Richter urteilt aufgrund seiner Enttäuschung über eine ausbleibende Revolution.

Wegen seiner politischen Überzeugung was es nur selbstverständlich, daß Brecht seine Kreidekreisgeschichte in Kaukasien spielen und sie in der nachkriegssowjetischen Situation aufführen ließ, weil Georgien das erste freie Gebiet nach dem "strategischen Rückzug" der deutschen Truppen war. Daraus entstanden zwei Geschichten--eine "eigentliche" Kreidekreisgeschichte und eine sowjetische. Beide Geschichten handeln vom Krieg. Während das Dienstmädchen Grusche ihre mütterliche Liebe zu dem durch Bürgerkriegsunruhe mutterlos gewordenen Kind, das sie vor zahllosen Gefahren gerettet hat, beweist und es durch den richterlichen Zuspruch gewinnt, können die Kolchosenbauern ihren Nachkriegseigentumsstreit ums Tal durch Beweise besserer Fürsorge und Anwendung lösen. Die utopische Version der Eigentumslösung, die durch das Vorspiel des Stückes vertritt, wurde jedoch nicht nur lange Zeit im Westen abgelehnt, sondern auch im Osten als unglaubhaft zurechtgewiesen.

Zwar wurde die erste Fassung stark von den schauspielerischen Möglichkeiten der Schauspielerin Luise Rainer beeinflußt, die in der Uraufführung spielen sollte, kam die geplante Aufführung jedoch wegen des Streites zwischen Brecht und der Schauspielerin nicht zustande. In der Überarbeitung, die Brecht dann unternahm, befreite sich Brecht von den schauspielerischen Möglichkeiten der Schauspielerin und veränderte wesentlich die Gestalt der Grusche. Grusche wurde eine einfältige, tragische--ein "sucker" wie Brecht später mit dem englischen Begriff definiert--, doch durchaus menschliche Figur.

Da Brecht am 31. Oktober 1947die USA verlassen mußte, konnte er während seines Amerika-Aufenthalts keine Aufführung in den USA erleben. Doch das Stück wurde zuerst in der englischen Sprache in den USA aufgeführt, nämlich am vierten Mai 1948 in einem College in Northfield, Minnesota. Das Stück wurde in der deutschen Sprache am 23. November 1951 in Göteborg uraufgeführt. In der zweiten Fassung verstärkte Brecht wesentlich die "epischen" Züge des Stückes z.B. durch Einsatz der Masken.
 





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