Der Besuch der alten Dame von Friedrich Dürrenmatt
--Interpretation

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Dürrenmatts Stück Der Besuch der alten Dame ist voll von Motiven und Symbolen, die Interpretationen erlauben und bedürfen.

Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand sind wichtige Motive in diesem Stück. Ganz am Anfang des Stückes sehen die Zuschauer, dass das kleine Städtchen nur eine Ausnahme in der Welt des wirtschaftlichen Aufschwungs bildet. Die vorbeirasenden Züge sind ein Symbol dieses hintergründigen Wohlstandes, den dieses verfallenen Städtchen leider seit Jahren vermisst. Die Milliardärin ist zwar keine Repräsentantin dieses Wohlstandes, sondern vielmehr ein Symbol des Luxus; sie ist jedoch ein Schlüssel, diesen verpassten Wirtschaftsaufschwung und Wohlstand wieder zurückzugewinnen. Deshalb sagt die Autorität der Stadt, der Bürgermeister, dass sie die einzige Hoffnung der Stadt sei. Die Handlung des Stückes läuft also deutlich auf das Aufholen dieses vermissten Wirtschaftsaufschwungs hin. Das bessere Essen  und Trinken, der Genuss der teureren Zigarren, das Tragen neuer gelber Schuhe, gepflegterer Kleidung und goldener Zähne, die Anschaffung neuer Autos, die Sanierung der Kulturstadt, und Ausgaben für Literaturstudium und Tennis sind alle Symbole, die auf den endlichen wiedergewonnenen Wohlstand des Städtchens  hinweisen.

Bestechung und Käuflichkeit sind ein anderes Paar der Motive, die dieses Stück bestimmen. Die Vorgeschichte der Entmenschlichung der Klara ist durch Ills Bestechung verursacht. Die Verwandlung der Klara in Milliardärin Claire Zachanassian vollzieht sich auch durch Käuflichkeit, weil sie sich aus der Überlebensnot als Ware verkaufen musste und jetzt will sie mit ihrer Geldmacht auch die Stadt zum Verbrechen (Mord) bestechen bzw. erkaufen. 

Gerechtigkeit und Rache sind ein anderes Paar der Motive (S.24, 29, 43, 45-49, 70, 90, 109, 121, 124-126), die das ganze Stück durchziehen. Dass Claire ihre Tat als Gerechtigkeitssuche bezeichnet, ist höchst ironisch, weil das ursprüngliche Verbrechen und seine Bestrafung schon auffallend aus dem Gleichgewicht geraten ist. Es geht vielmehr um Rache, die neues Unrecht anstiftet. In diesem Zusammenhang ist das Mit-sich-Nehmen eines  schwarzen Panthers (S.33) und die Jagd auf diesen entlaufenen Tieres (S.60f., 66f.73, 76f., 79) äußerst symbolisch, weil die die Motive Gerechtigkeit und Rache verweist und die spätere Ermordung Ills andeutet. Die böse Ahnung Ills ist umso gerechtfertigt, da Klara ihren jugendlichen Liebhaber früher so liebevoll als "schwarzen Panther" (S.26) bezeichnet hat.

Die kulturelle Traditionen des kleinen Städtchens--der in der antiken Philosophie und Literatur (S.34f., 90, 99, 103) verankerte Humanismus (S.14f., 50, 69, 87f., 98f. 119, 121) und Christentum (S.18, 24, 32f., 38, 50, 73, 80, 87, 95, 99, 124-126, 128)--sind auch wichtige Symbole, die in diesem Stück wiederholt aufkommen. Diese Werte werden zwar immer wieder erwähnt, aber nicht als stärkere Moralvorstellungen dargestellt, sondern die Ohnmacht dieser Werte vor der Geldmacht wird unterstrichen.

Auch die Namen der Charaktere werden von symbolischen Bedeutungen bestimmt. Klara bedeutet die Berühmte, Helle und Reine; und Wäscher betont die kleinbürgerliche Herkunft der Milliardärin. Ihr jetziger Vorname Claire bedeutet rein waschen, reinigen oder säubern; also Unrecht korrigieren und Gerechtigkeit wiederherstellen. Der jetzige Familienname Zachanassian wird nach Dürrenmatt aus Namen verschiedener Wirtschaftsführern--eines Rüstungsfabrikanten, eines Großreeders und eines Ölmilliardärs (S.141)--zusammengesetzt. Ill bedeutet krank auf Englisch; also das krankhafte Unrecht. Ironischerweise ist Ill der einzige Güllener, der einen individuellen Namen hat. Die anderen Güllener bleiben anonym; sie werden nur nach ihrer sozialen Funktion genannt. Der Name des Städtchen Güllen deutet Gülle oder Jauche an. Das Städtchen soll nach der Hochkonjunktur in Gülden, also Goldene, verändert werden.

Eine tragische Komödie nennt Dürrenmatt das Stück Der Besuch der alten Dame. Es gibt tatsächlich viele komische Momente. Das synchrone und wiederholte Sprechen der beiden blinden Männer wirkt vor allem komisch. Komisch ist auch, dass Claire ständig neue Ehen schließt, die sie jedoch sehr bald wieder aufhebt. Sie versteht sich, sich charmant aufzuführen. Zugleich verhält sich grausam und kaltschnäuzig. Obwohl sie körperlich und geistig so unnatürlich und erledig ist, wird sie komischerweise doch wie eine Göttin angesehen. Andererseits sagen die Güllener Ill zwar deutlich, dass sie bei seiner Flucht von ihm Abschied nehmen, sie gehen ihm jedoch nicht aus dem Weg, und Ill versucht komischerweise auch nicht, durch diese Menge zu durchdringen, sondern bricht zusammen. Am Ende des dritten Aktes nimmt er sein Schicksal an, lehnt jedoch entschieden den Selbstmordvorschlag des Bürgermeisters ab. Aus all diesen Erscheinungen ist eine Verbindung des Komisch-Unheimlichen mit dem Tragischkomischen ersichtlich. Indem Claire mittels ihrer Milliarde ihre Terrorherschaft über Ill durchsetzt, beruft sie sich doch auf lächerliche, absurde und komische Weise auf die Gerechtigkeit. Indem das tragische Schicksal Ills unaufhaltsam bis zum End hin zieht, gewinnt er jedoch die Komik durch seine bewusste Entscheidung, die tragische Größe seines Mordes nicht durch seinen Selbstmord zu verlieren. Die tragischen Einfälle sind komisch, weil sie offensichtlich als unwahrscheinlich erscheinen.

Das Groteske ist auch ganz wichtig an diesem Stück. Viele Dinge, die im Alltag unwahrscheinlich oder nur im extremen Fall möglich sind, tauchen in diesem Stück auf. Dürrenmatts Einfälle sind vom Grotesken bestimmt. Die Ankunft der Milliardärin durch Notbremse ist grotesk, d.h. zugleich überraschend und einmalig. Dass sie einen schwarzen Panther und einen Sarg mit sich bringt, ist mehr als schockierend. kein Wunder, dass der Lehrer sein Gefühl so ausdrückt: "...doch was Gruseln heißt...weiß ich erst seit einer Stunde. Schauerlich...." (S.34) Dass sie zusätzlich fast wie aus Prothesen montiert ist, ist kaum vorstellbar. Das Groteske gipfelt schließlich in die Milliardenspende als die Waffe eines angestifteten Mordes. Solche Fälle können kaum noch als Zufälle bezeichnet werden, wenn sie auf einmal das kleine Städtchen überfallen. Das Unheimliche bedeutet jedoch nicht Zerstörung, es bringt den unmittelbaren Wohlstand, der allen Güllenern teilhaft ist. Die individuelle Rache wird durch Gemeinnutz gerechtfertigt. Damit ist das Allerhöchste erreicht: Das Groteske, das aus der Verbindung des einmaligen, unerhörten, unfaßbaren, bodenlosen und monströsen Schrecklichen mit der möglichen Bewunderung und Überraschung entsteht. Das Gefolge der Milliardärin ist auch voll von grotesken Einfällen: Eingeblendete Kastraten mit ihrem synchronen wiederholten mechanisches Sprechen, die vorübergehenden Gatten der Milliardärin, unter ihnen ein die Antike nachforschender Nobelpreisträger.


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